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Das bosnische Haus in der Stabilokratie (1): Baustellen Europas

In diesem Beitrag reflektiere ich im Nachtrag zur zweiten Bildungsreise „Auf den Spuren der jugoslawischen Partisan:innen“ Ende Juni 2024 über den Zustand und die Metapher des bosnischen Hauses, das gleichzeitig eine Schau auf das europäische Haus beinhaltet.

Ich habe auf der gerade zurückliegenden Bildungsreise Auf den Spuren der jugoslawischen Partisan:innen vom 22.6. – 29.6.2024 unseres Vereins Balkanbiro durch Bosnien-Herzegowina wiederholt gesagt, dass etwas auf den Hund gekommen ist. Damit habe ich meistens den quasi-institutionalisierten Zustand eines Gebäudes kommentiert; fast (und nicht) immer war das jeweilige Gebäude gleichzeitig eine warme oder eine kalte Institution: ein kämpferisches Museum; ein erkaltender lieu de mémoire ( = Erinnerungsort); ein Denkmal mit geringer Besucherfrequenz; ein ehemals staatliches (und heute republikasrpskanisches) Hotel; ein metropolitaner, aber leergefegter Hauptbahnhof, auf dessen Gleisen Tänzerinnen ihre Choreographie einstudieren; ein zerschossener und zusammengeflickter Wohnkomplex im Stadtzentrum; das Gerippe eines herzegowinischen Bürogebäudes; ein pink bemaltes und granatiertes Altenheim; eine tycoonisierte Zeitungsredaktion.

Doch bevor ich die zugegebenermaßen abgehalfterte, oft auch problematische Phrase auf den Hund gekommen noch etwas weiter strapazieren will, indem ich sie mit den jüngsten, vor- und vorvorvorjährigen Eindrücken verbinde, um endlich die Metapher des bosnischen Hauses aufzulösen, muss ich zuerst eine etwas weiter ausschweifende Paranthese öffnen. Damit wird hoffentlich etwas verständlicher, was ich mit dieser Metaphorik (nicht) meine, und worauf ich schließlich auch noch ausführlicher in einem Fachartikel über Erinnerungsorte der 1970er-2020er Jahre auf dem Gebiet Bosnien-Herzegowinas im Zustand fortdauernder Stabilokratie hinaus will.

In einem Anschlussbeitrag werde ich noch genauer diskutieren, warum ich es oft für problematisch halte, durch ein Land wie BiH zu reisen und mit einem Außenblick (den auch ich selbstverständlich einnehme) das zu fokussieren, was nicht gut funktioniert. Ich hoffe, dass dies auch hier schon einigermaßen deutlich wird. Ich hoffe außerdem, dass es auf Zustimmung der Teilnehmer:innen stößt, wenn ich deren Äußerungen, die gleichzeitig zu meinen Beobachtungen gehören, unter Verwendung ihrer Aliase mit aufnehme. Ich bin mir sicher, dass die Teilnehmer:innen wissen, wie sehr ich die Reise mit ihnen genossen und wie viel ich mit ihnen gelernt habe.

Stabilokratie und ‚Politikantstvo‘

Für diejenigen, denen der Begriff der Stabilokratie nicht geläufig ist: Diese Bezeichnung hat sich in der sozialwissenschaftlichen Fachliteratur zu Regimen von Serbien über Nordmakedonien bis Bosnien-Herzegowina und andere Ausstülpungen desselben Phänomens in den letzten Jahren relativ fest etabliert (Link zu einer Publikation mit mehreren Aufsätzen zum Thema aus der HBS-Reihe Perspectives). Auch Regime außerhalb der Region lassen sich dieser Herrschaftsform zuordnen, wenn man nur an die Türkei und die herrschende Partei AKP denkt. Im regionalen Kontext wird der Begriff besonders häufig zur Klassifikation der serbischen Spielart des ethnonationalistischen Populismus verwendet, wie eine schnelle Desktoprecherche zeigt. Dort gibt es eine direkte und personelle Verbindung zwischen dem teflonartigen Vučić-Regime der Gegenwart und dem Milošević-Regime der 1980er-1990er Jahre sowie den mehr oder weniger unveränderten, großserbischen Narrativen wie z.B. Kosovo je Srbija („Kosovo ist Serbien“; zur serbischen Stabilokratie vgl. die kurze Charakteristik durch Silvia Nadjivan).

Hoshie, CC BY-SA 3.0 http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/, via Wikimedia Commons

Der bosnisch-herzegowinische Fall gestaltet sich komplexer als etwa im eher erdoganistisch-putinistischen Serbien mit seinem Mono-Alpha: Erstens blicken zumindest die Hauptstadt und die Föderation auf eine sehr viel kosmopolitischere und liberalere Ausrichtung zwischen Ende des Krieges und Mitte der 2000er Jahre zurück; zweitens ist in BiH die Akteursfiguration populistischer Gallionsfiguren, ihrer Underdogs sowie ihrer internationaler Unterstützer besonders dicht, struppig und widersprüchlich. Obwohl also erhebliche Unterschiede zu Mono-Alpha-Regimen wie Putin, Vučić, Erdoğan bestehen, erscheint für BiH der Begriff dennoch angezeigt: die Maxime halbherziger, falscher Stabilität steht über allem anderen — insbesondere über Fortschritt, Reform und Kooperation. Und nicht zuletzt lässt sich die politische Textur BiHs nicht aus dem Kontext der Region lösen. (Verdient genauere Ausführung)

Meine eigene, kurze Definition des Begriffs lautet abgekürzt, dass das Stabil in Stabilokratie erstens reine Persiflage ist: an der bosnisch-herzegowinischen Stabilokratie ist nur soviel stabil, dass ihr Zustand gerade noch zur verbreiteten Phrase samo nek‘ se ne puca taugt: „Solange nicht geschossen wird, geht’s“. Es gibt auf Jezik* die verwandte Persiflage von Politik (politika), die politikantstvo lautet. Politikantstvo stellt gewissermaßen den Modus von schlechter — im Arendt’schen Sinn anti-politischer — Politik dar, weil eben nicht im Prinzip des Gemeinwesens der verschieden ausgedeuteten, aber dennoch im Ganzen geteilten Interessen gehandelt wird. Letzteres wäre in etwa Hannah Arendts Begriff des Politischen (le politique / das Politische), während politikantstvo an Berufspolitik (la politique / die Politik) grenzt und gewissermaßen ihre Dekadenzstufe darstellt. Auf der kroatischen Seite Proleksis Enciklopedija wird politikantstvo folgendermaßen definiert (Übersetzung slijedi kad-tad):

politikantstvo, bavljenje dnevnom, neposrednom politikom koje se iscrpljuje u sitnim polit. kombinacijama i u borbama za vlast, prestiž, ili za sitnu polit. ili kakvu drugu korist. U pejorativnom smislu, neposredno bavljenje sitnim polit. igrama, podmetanjima, kalkulacijama, polit. intrigama i spletkama radi osobnog probitka ili koristi, bez širih pogleda ili vizija i zalaganja općeg interesa i općeg dobra. Politikant, onaj koji se bavi politikantstvom, polit. spletkar, intrigant i smutljivac.

In BiH ist außerdem die zementierte Demarkationslinie des fast dreißigjährigen Nachkriegs konstitutiv, wie sie im Vertrag von Dayton in Zusammenarbeit und Einvernehmen auch mit schwersten Kriegsverbrechern (s. Slobodan Milošević, Franjo Tuđman u.a.) festgeschrieben worden ist — ohne, dass der Dayton-Vertrag je als eine zukunftstaugliche Verfassung vorgesehen gewesen wäre. Der Vertrag hätte eigentlich ein kriegsbeendendes Provisorium sein sollen. Er hat es aber über ein noch unzureichend aufgearbeitetes, äußerst rentables Jahrzehnt internationaler Präsenz und Parallelwirtschaft geschafft, zu einer sich immer weiter in die Zukunft dehnenden Sackgasse zu werden.

Zum besseren Verständnis des aktuellen, politischen Who-is-Who und den legalen und administrativen Strukturen und Verwerfungslinien hat unsere Referentin Judith Brand (bis vor kurzem Leiterin der Heinrich Böll Stiftung Sarajevo) ausführlich aufgeklärt. Für unsere Teilnehmer:innen war dies enorm hilfreich, da sich in quasi allen Beiträgen die Effekte der 1990er und des Nachkriegs mit unserer zentralen Thematik des Zweiten Weltkriegs und dem Erbe der Partisan:innen verschränken und leicht für Verwirrung sorgen können.

In der lokalen und regionalen Figuration von Politikantstvo ist weiterhin die Institution der Sessel (fotelje) konstitutiv: in den Sesseln sitzt je ein sogenannter foteljaš, ein Sesselhocker, dessen Hauptaufgabe darin besteht, den Sessel warm zu halten (status quo). Dies gelingt über stabile Verbindungen (veze), loyale und hörige Posten (štele), permanente Warnungen vor dem Verlust vitaler nationaler Interessen (vitalni nacionalni interesi), verstärkt aber auch über zeitgenössische Desinformationskampagnen und Wahlmanipulationen.

Viel mehr wäre dazu vielleicht gar nicht zu sagen; die ganze Chose könnte in einer klischeeträchtigen Balkanschublade abgelegt und klientelistischen, regionalen Eliten angelastet werden — wenn die erschreckend visions- und strategielose Außenpolitik Europas, insbesondere Deutschlands (das hier einflussreichste Land), sowie unzähliger anderer Internationaler nicht zutiefst involviert wären und sogar institutionell und personell in der Verantwortung stünden.

Der Zustand des bosnischen Hauses als Leitmetapher für die beschriebenen und noch zu ergänzenden Sub-Zustände, so meine Hauptthese, teilt viel mehr Gemeinsamkeiten mit der verschwisterten Metapher des allmählich ebenso auf den Hund kommenden europäischen Hauses, als allgemein vielleicht oft angenommen wird. Die Zerschossenheit einiger bosnisch-herzegowinischer Hausfassaden mag in diesem Licht vielleicht sogar wie eine erprobte Avantgarde erscheinen, die wir durchaus ernst nehmen sollten — und ich denke dabei insbesondere an das unaufhörliche Gieren nach Identität, Identität und Identität.

Insofern ist dieser Beitrag kein Beitrag über Bosnien — sondern über Europa. Ich muss wohl nicht hinzufügen: über ein Europa, wo vom Taumel deutscher Außenpolitik, über die jahrelange Arroganz der französischen Regierung, die Effekte verstetigter digitaler Unmündigkeit, die Folgen jahrzehntelanger Autokratieförderung und vieles Arges mehr die Felle fortzuschwimmen scheinen. Konsterniert scheint die liberal gesinnte, demokratische Öffentlichkeit auf das Geschehen zu blicken, als geschähe ein großes Unwetter, dem nichts entgegenzusetzen ist; angesischts der bosnischen Lektionen gerät diese lähmende Lethargie schnell zu einem Kopfschütteln. Aber über Analogien kann vielleicht besser am Ende oder in einem anderen Beitrag gestritten werden.

(Anm.: Dieser Artikel entsteht seit der letzten Partisan:innenreise 9/2023 und soll spätestens mit der nächsten Reise im September gesättigt sein.).

Zwischen Kreativität und zerstörter Bausubstanz

Es ist unter Umständen sehr einfach und grenzt an bald wohlfeiles, bald überhebliches Stating-the-obvious, durch Bosnien-Herzegowina zu reisen — oder sich dort gar jahrelang als internacionalac/-ka CV-rentabel aufzuhalten — und hie und da zu äußern, wie augenfällig Gebäude, Institutionen, Straßen, Infrastruktur oder auch kulturelle Angebote im Argen liegen. Freilich in erster Linie, wenn man einmal von den Hochglanzfassaden der neuen Shopping Malls, den zurecht geputzten und devotionalienverhangenen Čaršijen (Čaršija = Markt-/Basarviertel), den restaurierten Brücken, Moscheen, Kirchen, Ethno-Dörfern und atemberaubenden Landschaften absieht.

Und es gibt eine weitere Kehrtseite, die auch unseren Teilnehmer:innen aufgefallen ist, besonders in Sarajevo und Mostar: es finden hier höchst spannende Kulturveranstaltungen wie der Sarajevo Pride, das Sarajevo Film Festival (immer im Auguts) oder das Literaturfestival Bookstan (diese Woche) statt. Es existiert eine Unzahl kreativer, einzigartiger und gewiefter Musiker:innen und Konzerten, zum Beispiel in der vor Hybridität und schierem Können strotzenden Sevdah-Szene (z.B. the one and only Damir Imamović, Amira Medunjanin, Božo Vrećo, Mostar Sevdah Reunion), aber auch in verwandten Genres (z.B. the one and only Jelena Milušić & Merima Ključo) oder völlig anderer Genres (z.B. Dubioza Kolektiv, Zoster, KZU ole ole & PZU oje ojeweiß gerade nicht, ob letztere noch auftreten). Was uns besonders beeindruckt hat, ist das zähe, unabhängige und freie Engagement des Historischen Museums, das eher den gemischten Spirit von Squat, Underground und internationalem Workcamp ausstrahlt als die Aura eines metropolitanen, staatlichen Geschichtsmuseums und uns tief beeindruckt hat. Dasselbe gilt für NGOs wie Crvena: Verein für Kultur und Kunst in Sarajevo oder OKC Abrašević in Mostar. Wie diese nur angerissene, unvollständige Auflistung schon zeigt: das sehr kleine Land BiH belohnt ernsthaft Interessierte mit sehr großen (immateriellen) Reichtümern.

Das wunderbare Duo Merima Ključo und Jelena Milušić

Dennoch: Fährt man offenen Auges durch das Land oder besucht — wie unsere Reisegruppe auf den Spuren der jugoslawischen Partisan:innen — die oben bereits angesprochenen Erinnerungsorte, so kann einem nicht entgehen, dass hier etwas nicht stimmt. Vielleicht lässt sich vorläufig festhalten, dass Bosnien-Herzegowina ein ganz widersprüchliches Pensum an Sehenswürdigkeiten, Kulturgütern und Lektionen birgt.

Dass hier etwas nicht stimmt

Dass hier etwas nicht stimmt entwindet sich die ganze Reise hindurch über komplexe, nie enden wollende Nebensätze und Ja-aber-dann-gab-es-da-auch-noch-Fikret-Abdić-Einschübe — wenn es über das sogenannte politische System, Entitäten, Distrikte, Staaten im Staate, Föderationen, Republiken, Kantone, Demarkationslinien, konstitutive und nicht-konstitutive Völker, Triumvirate, Alphabete, angeblichen und echten Sprachen, Religionen geht.

And what not.

Dass hier etwas nicht stimmt demonstriert sich aber auch oft genug ganz von selbst beim Vorbeilaufen, was auch unsere Reisegruppe feststellen konnte. Ich führe ein paar Beispiele von der Reise auf, um danach wieder auf Positionalität, die sogenannte Internationale Gemeinschaft, das Phänomen ahnungsloser Überheblichkeit derer von Außen sowie die vollumfängliche Taugenichtsigkeit von Stabilokratie zurückzukommen.

So hat mich ein Teilnehmer (entweder Drūg Šumski Leptir oder Sijalica) beim ersten, langen Stadtspaziergang in Sarajevo vom Basislager Grand zum Gedenkpark Vraca gefragt, warum man so lange nach dem Krieg noch allerorten so starke Beschädigungen und Einschusslöcher sehen könne. Er wollte sich erklären, woran es liegen könne, dass die Stadt zwischendurch eben gar nicht aussehe wie fast-30-Jahre-nach-dem-Krieg; ob dies mit Geldmangel zu tun oder andere Gründe habe. Ähnliche Fragen tauchten auch in Mostar auf, wo wir den Bulevar entlang gingen, dessen renovierte Häuser mit ihren glatten, hell verputzten Fassaden und blühenden Vorgärten mit den zwischendurch gaffenden, brutal zugerichteten Häuserleichen der 1990er kontrastieren.

Ich konnte diese Fragen nicht beantworten. Einerseits wird es unterschiedliche Gründe haben, darunter mit Sicherheit Mangel und ungeklärte Besitzverhältnisse (zumindest war das Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre so); andererseits bin ich nicht mehr ausreichend informiert über die lokalen Kontexte und die Geschichten einzelner Gebäude und Besitzverhältnisse. Als ich aber am Montag schließlich im Bus an die Krivaja saß und auf eine Granatierungsspur auf den Kalkplatten des Busbahnhofs blickte, die haargenauso aussah wie 1997, als ich das erste Mal nach dem Krieg mit dem Bus von der Krivaja kommend in diese Stadt hineinfuhr, kam mir der Gedanke, dass es teilweise auch Absicht sein könnte. Oder etwas dazwischen, eine Art subtiles Stehenlassen. Bestimmt wäre es absurd, alle stehen gelassenen Spuren des Krieges und der unmenschlichen Belagerung bewusster Absichtlichkeit unterzuschieben; andererseits werden in vielen kriegsversehrten Städten, etwa Hiroshima oder Berlin, Bombenruinen und andere Kriegsspuren als lieux de mémoire erhalten. In Sarajevo gilt das definitiv für die Rosen Sarajevos (Ruže Sarajeva): mit roter Füllung versehene Granatspuren auf den Gehwegen, die an das vergossene Blut der unschuldigen, jahrelang malträtierten Opfer der Belagerung erinnern sollen.

Eine der Rosen Sarajevos. Foto: TS, September 2023.

Die längste Belagerung, wie im gleichlautenden Buchtitel von Amra Abadžić, kann mit Fug und Recht als der zentrale lieu de mémoire der Stadt Sarajevo unter Bedingungen des stabilokratischen Nachkriegs gelten. Dazu muss man sich vor Augen halten, dass die sogenannte Republika Srpska bis heute direkt an die Stadt grenzt, zum Beispiel am Gedenkpark Vraca, worauf Nicolas Moll in seiner Führung durch den Gedenkpark hingewiesen hat. Ich will noch anekdotisch eine vollkommen absurde Szene hinzufügen, die sich in ähnlicher Gestalt auch andernorts in BiH wiederfinden lässt: Als ich am Sonntagabend bei meinen Freunden in Grbavica zum gemeinsamen Grillen auf dem Balkon saß, deutete meine Freundin Aida auf ein rotes Licht, das jetzt allabendlich hinter einem Hang des Hausbergs Trebević hervorspitzt. Ich dachte, es handelt sich um ein besonders grelles Warnsignal für Flugzeuge — aber Nein: dort befindet sich eine überdimensionierte Flagge der RS in den serbischen Nationalfarben. Niđeveze: die Provokation ist baulich „missglückt“, weil die Lichtinstallation nun doch nur als Ausschnitt sichtbar ist. Dennoch: hier wird absichtlich eine Provokation platziert, die eine recht direkte Drohung der Täterseite an die traumatisierte Bevölkerung enthält.

Es trug sich noch eine andere Szene zu, die aber ganz bestimmt nichts mit Absicht zu tun hat: Als wir einen Tag später auf dem Weg zum Historischen Museum waren und gerade an der eingepanzerten US-Botschaft entlang liefen, wurden einige TN (darunter Drugarica Slovo) Zeugen, wie einfach so aus heiterem Himmel auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein vollständiges Fenster nach unten auf das Trottoir fiel, augenblicklich in tausende Einzelteile zersplitterte und nur um ein paar Haarbreit eine erschrockene ältere Frau nicht erschlagen hat. Fassungslose Köpfe reckten sich aus den Fenstern des Gebäudes und vom Gehsteig. Ich klicke mich mehrmals wöchentlich durch bosnische Nachrichtenseiten, um grob auf dem Laufenden zu bleiben, und habe dabei sofort an ein paar Nachrichten gedacht, die hin und wieder zu lesen sind. Auch mitten in der Stadt ist es schon passiert, dass große Brocken der Fassade auf herunterfielen, ohne, dass es ein Unwetter oder einen anderen Grund gegeben hätte. Auch in den lokalen Medien wurde dies kommentiert, als sei etwas ganz grundsätzlich auf den Hund gekommen.

Nun sitze ich an der Krivaja, mitten im ländlichen Bosnien, wohin durch schlechte Verkehrsanbindung und inexistente touristische Infrastruktur kaum Touristen ihren Weg finden (božinji hvala); dank zwischenethnisch relativ stabiler, wenn auch krass überalterte Demographie, findet hier (bislang) außerdem kein Ausverkauf von Land und Immobilien statt. Ich kenne diese Gegend seit meiner Kindheit, wenn auch eher aus der Perspektive eines teilnehmenden Zaungastes — und ich kann sagen, dass es eine ganz andere Welt als Sarajevo ist, das hier trotz der geringen Distanz von zirka 80 Kilometern sehr fern zu sein scheint.

Alle um mich herum haben die Altersgrenze 55 überschritten, teils um Jahrzehnte. Sva su ova sela uvijek bila puna — all diese Dörfer waren doch immer voller Leute, hat einer meiner in Deutschland lebenden Onkel vor ein paar Jahren anlässlich einer Fahrt zu einer Beerdigung in einem Bergdorf wehmütig kommentiert; genau so erinnere auch ich diese Döfer noch im Jahr 1990, als ich hier fünf Wochen Sommerferien ohne Eltern und Schwester verbringen durfte. Unsere Baba Verka wohnt seit 1996 wieder in ihrem Dorf unten im Tal. Sie navigiert mutig, wenn auch schwer krank, durch ihr 87. Lebensjahr. Auch die meisten anderen Bewohner:innen sind mehr oder weniger krank, bedürften eines funktionierenden Gesundheitssystems, das aber hier auch auf den Hund gekommen ist — verglichen mit der jugoslawischen Zeit vor dem Krieg. Gordana von nebenan kämpft zäh gegen Brustkrebs, a ne da se, wie sie hier sagen: sie gibt sich nicht geschlagen.

In einer solchen Konstellation, wo die relativ wohlhabenden und zahlreichen Kinder in Österreich, Deutschland und andernorts in der Dijaspora schlichtweg kein örtliches Pflegepersonal finden können — wer ist hier nicht in Mitteleuropa? — blühen merkwürdige Geschöpfe eines Para-Gesundheitswesens. In der Corona-Pandemie war ich schockiert zu erfahren, dass Baba Verka vor ihrer Nierenkrebsoperation zuerst einen Markt in einer anderen Kleinstadt aufsuchen musste, wo sie Blutkonserven für ihre OP zu kaufen und ins Krankenhaus in Zenica mitzubringen hatte; das ist gängige Praxis und hat nichts mit der Pandemie zu tun. Ich habe sie letztes Jahr nach der Partisan:innenreise ins völlig überlastete Krankenhaus von Zenica Crkvice gefahren, wo das Krankenhauspersonal wahre Heldentaten vollbringt. Es bieten sich dort erschütternde Szenen, die ich so nicht erwartet hatte. Weil es nicht genug Pflegepersonal gibt, werden bettlägrige Patienten von Verwandten in ihren Krankenbetten durch die Gänge des Krankenhauses zum OP-Saal gerollt.

Ich habe heute mit Baba Verka eine Sendung namens Priče iz Bosne (Geschichten aus Bosnien) auf dem lokalen TV-Kanal Izvorna TV geschaut, wo ein medienaffiner, talentierter und gutaussehender Quacksalber mit seinen selbstfabrizierten Mixturen angeblich drei Krebspatienten in einer Familie bei Zavidovići ganz auf einen Schlag geheilt haben will: die Familie wird in der Sendung besucht, die Geschichte unter ständigen Danksagungen an lieben Gott (Allahu dragi) und den Heiler der Reihe nach immer wieder affirmiert. Es fließen echte oder gestellte Freudentränen. Daneben werden hier auch sogenannte vještice (Hexen) besucht, die ihre Tinkturen, Tabletten und Séancen zu Wucherpreisen anbieten, und ich erspare uns weitere Details dazu.

Auch diese Dinge gehören zu den Institutionen des heutigen bosnischen Hauses, die einem vielleicht erst auf den zweiten oder dritten Blick auffallen — durchaus auch in Städten wie Sarajevo, wo türkische und andere Krankheitsinstitutionen wie Pilze aus dem Boden sprießen und ihre Dienste anbieten.

Aber noch einmal abschließend zurück zu den Gebäuden, nach Sarajevo.

Der Eingang zum Historijski Muzej in Sarajevo. Bild: TS, September 2023.

Eine vorerst letzte Sequenz kommt vom dortigen Historischen Museum, wobei ich gleich dazu sagen möchte, dass eine Beschreibung des Tals der Helden (dolina heroja) und der dazugehörigen Anlagen im Nationalpark Sutjeska unbedingt noch zu ergänzen wäre; ebenso der Partisanenfriedhof in Mostar — aber dafür soll es ja den eingangs erwähnten Fachartikel geben. Die Teilnehmer:innen — die sich am Ende Genoss:innen nennen und einander Spitznamen gegeben haben würden — sind sichtlich „fasziniert“ vom unsäglichen Zustand der Treppenstufen und der Fassade des Museums. Man stelle sich einmal vor, das Deutsche Historische Museum in Berlin mit seiner opulenten Innen- und Außenarchitektur — ganz zu schweigen von den (Dauer-)Ausstellungen — bliebe mehr als dreißig Jahre sich selbst überlassen. Es ist völlig nachvollziehbar, dass das Gebäude in Sarajevo zuerst durch diese Wahrnehmungsbrille gesehen wird, auch wenn unsere Teilnehmer:innen ein faszinierendes Maß von Verständnis, Respekt und Empathie an den Tag legen — und ich kann mit Sicherheit und aus Erfahrung sagen, dass dies nicht selbstverständlich ist. Aber um sehr viel problematischere Wahrnehmungsschablonen sogenannter Internacionalci soll es im nächsten Beitrag gehen.

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